Sehr geehrte Damen und Herren,
zum 22. März 2016 wurde an den Sejm der Gesetzesentwurf über die Änderung des Gesetzes – Abgabenordnung und einiger anderer Gesetze (im Folgenden: Gesetzesentwurf) weitergeleitet. Gemäß diesem Entwurf soll in die polnische Gesetzgebung die Missbrauchsklausel eingeführt werden. Es ist möglich, dass die vorgeschlagenen Änderungen bereits in zwei oder drei Monaten in Kraft treten.
Gemäß dem Inhalt des Gesetzesentwurfs wird die Abgabenordnung um Teil IIIA ergänzt (Art. 119a – 119zf), wo die Regelungen über Bekämpfung der Steuerhinterziehung enthalten werden. Der Kern der vorgeschlagenen Regelung ist Art. 119a §1 Abgabenordnung, in dem angegeben wurde, dass die Steuerhinterziehung, die als eine künstliche Handlung auf der Vornahme einer Handlung hauptsächlich zwecks Erlangens eines Steuervorteils beruht, welcher dem Gegenstand und Zweck der Vorschriften des Steuergesetzes widerspricht, kein Erlangen eines Steuervorteils zur Folge hat.
In den neuen Regelungen wird angenommen, dass im Falle einer Steuerhinterziehung die steuerlichen Folgen aufgrund solch eines Sachverhalts bestimmt werden, der auftreten würde, falls eine entsprechende Handlung durchgeführt worden wäre. Eine entsprechende Handlung ist die Handlung, die durchgeführt werden könnte, falls ein Steuerpflichtiger vernünftig handeln würde und dabei ordnungsgemäße Zwecke, andere als Erlangen eines Steuervorteils, verfolgen würde. Wird im Laufe des Verfahrens durch eine Verfahrenspartei auf die entsprechende Handlung hingewiesen, dann werden die steuerlichen Folgen aufgrund solch eines Sachverhalts bestimmt, der auftreten würde, falls eine solche Handlung durchgeführt worden wäre. Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass das einzige Ziel der jeweiligen Partei das Erlangen eines Steuervorteils war, dann werden die steuerlichen Folgen aufgrund solch eines Sachverhalts bestimmt, der auftreten würde, falls eine solche Handlung nicht durchgeführt worden wäre.
Künstliche Vorgehensweise
Gemäß dem Wortlaut des Art. 119c §1 Abgabenordnung wird eine Vorgehensweise als künstlich betrachtet, falls die vorliegenden Umstände darauf hinweisen, dass ein Subjekt, das vernünftig handelt und die ordnungsgemäße Ziele andere als Erlangen des im Widerspruch zum Steuergesetz stehenden Steuervorteils verfolgt, auf solch eine Weise nicht vorgehen würde. Bei Beurteilung der Vorgehensweise wird beachtet, ob Folgendes eingetreten ist:
- unbegründete Teilung der Geschäfte,
- Einsatz von vermittelnden Subjekten, obwohl es dafür weder eine ökonomische noch wirtschaftliche Rechtfertigung gibt,
- Faktoren, die das Erreichen eines identischen bzw. ähnlichen Sachverhalts gegenüber dem vor der Durchführung der jeweiligen Handlung vorliegenden Sachverhalt zur Folge haben,
- Faktoren, die sich aufheben oder sich gegen einander ausgleichen,
- ein ökonomisches oder wirtschaftliches Risiko, das die erwarteten Vorteile – anderen als Steuervorteile – in solchem Maß übersteigt, dass anzunehmen ist, dass ein vernünftig handelndes Subjekt eine solche Vorgehensweise nicht wählen würde.
Handlung zwecks Erlangens eines Steuervorteils
Gemäß dem Wortlaut der neuen Vorschriften werden die von einem Steuerpflichtigen durchgeführten Handlungen als hauptsächlich zwecks Erlangens eines Steuervorteils vorgenommen angesehen, falls sonstige von ihm genannte ökonomische oder wirtschaftliche Ziele sich dabei als wenig relevant erweisen. Als ein Steuervorteil gilt in solch einem Fall Folgendes:
- Nichtentstehung einer Steuerschuld, zeitliche Verschiebung dieser Steuerschuld oder Herabsetzung ihrer Höhe oder Entstehung bzw. Überhöhung eines steuerlichen Verlusts,
- Entstehung eines Steuerüberschusses bzw. Anspruchs auf Steuererstattung oder Erhöhung des Überschuss- bzw. Erstattungsbetrags.
Voraussetzungen für Nichtanwendung der Missbrauchsklausel
Die Vorschrift des Art. 119a Abgabenordnung ist (gemäß Art. 119b AO) in folgenden Fällen nicht anzuwenden:
- wenn ein Steuervorteil oder die Summe von erlangten Steuervorteilen in der jeweiligen Abrechnungsperiode 100.000,00 PLN nicht übersteigt,
- auf ein Subjekt, das ein Sicherungsgutachten in Bezug auf die jeweilige Handlung erhielt – im Umfang dieses Gutachtens, bis zum Tag der Aufhebung oder Änderung dieses Gutachtens,
- auf das Subjekt, dessen Antrag auf Erlass des Sicherungsgutachtens innerhalb der in Art. 119zb genannten Frist nicht geprüft wurde – im Umfang dieses Antrags, bis zum Tag der Änderung des Sicherungsgutachtens,
- auf Umsatzsteuer und auf öffentliche Abgaben und nichtöffentliche Haushaltsforderungen,
- wenn die Anwendung sonstiger steuerrechtlichen Vorschriften die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ermöglicht.
Zwar erstreckt sich die Missbrauchsklausel nicht auf die Umsatzsteuer, aber mit dieser Änderung werden auch die Änderungen im Umsatzsteuergesetz (im Folgenden: UStG-PL) vorgenommen, u.a. durch die Einführung des Begriffs eines Rechtsmissbrauchs in Art. 2 Nr. 35 UStG-PL. Ein Rechtsmissbrauch wird bezeichnet als Ausführung von steuerbaren Leistungen im Rahmen von Geschäften, die trotzt Erfüllung der formalen, in den Gesetzesvorschriften genannten Bedingungen auf das Erlangen von Steuervorteilen abzielten, die dem Zweck dieser Vorschriften widersprachen.
Steuerverfahren im Falle der Steuerhinterziehung
Der zuständige Minister für öffentliche Finanzen (im Folgenden: Finanzminister) leitet ein Steuerverfahren ein oder er übernimmt aufgrund eines Beschlusses vollständig oder teilweise ein Steuerverfahren oder eine Prüfung der Aufsichtsbehörden für öffentliche Finanzen, falls in Bezug auf die Steuerhinterziehung ein Bescheid über:
- Bestimmung bzw. Ermittlung der Höhe einer Steuerschuld,
- Festsetzung der Höhe eines steuerlichen Verlusts,
- Feststellung des Steuerüberschusses oder Festsetzung der Höhe des Steuerüberschusses oder der Steuererstattung,
- Haftung des Steuerpflichtigen für eine von dem Steuerzahler nicht erhobene Steuer,
- Haftung oder Berechtigungen des Erben/der Erbin
erlassen werden kann.
Durch die Übernahme einer Prüfung der Aufsichtsbehörden für öffentliche Finanzen wird gleichzeitig von dem Finanzminister ein Steuerverfahren eingeleitet. Im Beschluss über die Übernahme der Prüfung wird genannt, in welchem Umfang sie übernommen wurde. Der Beschluss wird an die Verfahrenspartei und die bisher die Prüfung leitende Behörde zugestellt. Die Übernahme der Prüfung wirkt sich auf die Rechtskraft der durch eine Finanzbehörde oder Aufsichtsbehörde für öffentliche Finanzen bereits durchgeführten Handlungen nicht aus.
Sicherungsgutachten
Mit dem Gesetzesentwurf sind Sicherungsgutachten einzuführen, die eine Alternative für individuelle Interpretationen sein werden. Finanzbehörde, die Sicherungsgutachten erlassen wird, ist Finanzminister. Der Antrag kann gemeinsam durch ein paar betroffene Subjekte gestellt werden und sich sowohl auf eine bereits durchgeführte, als auch auf eine angefangene oder geplante Handlung beziehen.
Ein Sicherungsgutachten ist unverzüglich, jedoch spätestens 6 Monate nach Erhalt des Antrags durch den Finanzminister zu erlassen, vorausgesetzt dass die in dem Antrag dargestellten Umstände darauf hinweisen, dass es keine Grundlage für Anwendung des Art. 119a Abgabenordnung gibt. Der Antrag auf Erlass eines Sicherungsgutachtens unterliegt einer Gebühr i.H. v. 20.000,00 PLN.
Zugleich kann die vergebende Behörde (ab 1. Juli 2016 werden die Interpretationen anstatt von dem Finanzminister, in dessen Namen die Leiter der Oberfinanzdirektionen handeln, von dem Leiter des Büros für Landesauskunft für Steuern vergeben) im Falle der individuellen Interpretation die Vergabe solch einer Interpretation in Bezug auf solche Elemente des jeweiligen Sachverhalts bzw. des künftigen Vorfalls verweigern, die als Steuerhinterziehung gelten. Bei Prüfung des Antrags auf Vergabe der individuellen Interpretation kann die vergebende Behörde im Falle der Zweifel, ob der künftige Vorfall bzw. der jeweilige Sachverhalt als Steuerhinterziehung gilt, die Begutachtung in diesem Bereich bei dem Finanzminister beantragen.
Ausschuss für Bekämpfung der Steuerhinterziehung
Der Gesetzesentwurf sieht die Entstehung des Ausschusses für Bekämpfung der Steuerhinterziehung (im Folgenden: „Ausschuss”) vor, die eine unabhängige begutachtende Behörde im Bereich der Begründetheit der Anwendung des Art. 119a Abgabenordnung in individuellen Sachen sein wird. Der Ausschuss wird von dem Finanzminister für eine Amtsperiode von 4 Jahren einberufen.
Im Laufe des aufgrund der Steuerhinterziehung eingeleiteten Steuerverfahrens kann der Finanzminister die Meinung des Ausschusses über die Begründetheit der Anwendung des Art. 119a Abgabenordnung einholen. Die Meinungen des Ausschusses sind samt Begründung schriftlich unverzüglich abzugeben, jedoch spätestens innerhalb von 3 Monaten nach Erhalt der Akten der jeweiligen Sache. Wird im Laufe des Verfahrens die Abgabe der Meinung von dem Finanzministers nicht beantragt, dann ist die Verfahrenspartei berechtigt, den Antrag auf Abgabe der Meinung im Rahmen des Widerspruchs gegen den Bescheid zu stellen.
Die Meinung des Ausschusses über die Begründetheit der Anwendung des Art. 119a Abgabenordnung gilt nicht als Sicherungsgutachten im Sinne des Art. 119w Abgabenordnung. Sie ist auch nicht bindend für den Finanzminister. Er ist aber verpflichtet, in seinem Bescheid zu dieser Meinung Stellung zu nehmen.
Übergangsvorschriften und Inkrafttreten
Laut dem Gesetzesentwurf hat das Gesetz 30 Tage nach dessen Bekanntmachung in Kraft zu treten. Die Vorschriften über die Missbrauchsklausel sind ausschließlich auf die Handlungen anzuwenden, die nach dem Inkrafttreten der geplanten Änderungen durchgeführt wurden. Entscheidend ist dabei der Zeitpunkt der Handlungsdurchführung. Es ist irrelevant, ob der jeweiligen Handlung, die als Steuerhinterziehung gilt, die anderen Handlungen vorangingen, die vor dem Inkrafttreten dieser Klausel zustande kamen. Gemäß der Gesetzesbegründung ist dann ein Steuerpflichtiger verpflichtet, die Fortsetzung der Steuerhinterziehung zu unterlassen, die auf der Nutzung der vor dem Inkrafttreten der vorgenannten Vorschriften entwickelten „künstlichen Handlungsmechanismen” beruht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Steuerhinterziehung das Haushaltsgleichgewicht und die Stabilität von öffentlichen Finanzen gefährdet. Sie gilt auch als Verletzung der verfassungsmäßigen allgemeinen Steuerpflicht. Die einzuführende Klausel hat zum Ziel die Schaffung der Ordnung für das Steuerrechtssystem, Setzung der Grenzen für die zulässige Steueroptimierung und Stärkung der Unabhängigkeit des Steuerrechts gegenüber dem Zivilrecht. Zugleich besteht aber die im Gesetzesentwurf vorgeschlagene Missbrauchsklausel aus unpräzisen Begriffen, deren Auslegung zu einer unzulässigen Rechtsfortbildung durch die Finanzbehörden führen kann. Es scheint, dass die vorgenannte Klausel besonders bereits nach deren Einführung die Rechtsstreite zwischen den Steuerpflichtigen und Finanzbehörden verursachen wird.
Sollten Sie Fragen dazu haben oder möchten Sie dieses Thema näher besprechen, dann steht Ihnen unser Experte Przemysław POWIERZA jederzeit gerne zur Verfügung.
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