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Polnische Rechtsvorschriften über Erfassung der geschuldeten Steuer und Vorsteuer für innergemeinschaftliche Erwerbe unvereinbar mit dem EU-Recht

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) erließ am 18. März ein für polnische Steuerpflichtige wichtiges Urteil in der Rechtssache C-895/19, in dem er entschied, dass die polnischen Rechtsvorschriften über den Vorsteuerabzug im Falle einer verspäteten Erfassung der innergemeinschaftlichen Erwerbe den EU-Regelungen nicht entsprechen.

Bisherige Lage

Gemäß dem seit 1. Januar 2017 geltenden Art. 86 Abs. 10b und 10i des Gesetzes vom 11. März 2004 über Umsatzsteuer (UStG-PL) entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, sofern der Steuerpflichtige innerhalb von drei Monaten nach Ablauf des Monats, in dem die Steuerpflicht hinsichtlich der erworbenen Gegenstände entstanden ist, eine Rechnung über die Lieferung der Gegenstände erhält, die für ihn einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen darstellt und die Vorsteuer für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen in einer von ihm abzugebenden Steuererklärung anmeldet.

Solche Regelungen bereiten den polnischen Unternehmern viele Probleme, denn oft – ohne ihr Verschulden – erhalten sie die Rechnungen von den leistenden Unternehmern mit einem großen Verzug. Die Überschreitung der in dem polnischen Umsatzsteuergesetz genannten Frist von drei Monaten hat zur Folge, dass die Steuerpflichtigen die geschuldete Mehrwertsteuer in dem Zeitraum der Entstehung der Steuerpflicht (d.h. rückwirkend) und die Vorsteuer in der laufenden Abrechnung (laufend) ausweisen, wodurch die Steuerrückstände und die Notwendigkeit der Zahlung von Verzugszinsen entstehen, deren Beträge oft sehr hoch sind.  

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Polnische Rechtsprechung

Da die Steuerpflichtigen Zweifel hatten, ob die Vorschriften des Art. 86 Abs. 10b und 10i des UStG-PL mit den Vorschriften der EU-Richtlinien vereinbar sind und den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht verletzen, war diese Frage Gegenstand von zahlreichen Verwaltungsgerichtsverfahren. Leider war die Rechtsprechung der Gerichte in diesem Bereich nicht einheitlich, deswegen hatten Steuerpflichtige keine klaren Vorgehenshinweise bei der Abrechnung der innergemeinschaftlichen Erwerbe.

Letztendlich stellte das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Gliwicach [dt. Woiwodschaftsverwaltungsgericht Gliwice] in der Rechtssache mit dem Az. SA/Gl 495/19 das sog. Vorabentscheidungsersuchen (d.h. noch vor dem Erlass eines Urteils) unmittelbar an den EuGH. Diese Rechtssache betraf eine niederländische Gesellschaft, welche die Erwerbe, darunter innergemeinschaftliche Erwerbe in Polen tätigt und nicht immer in der Lage ist, die geschuldete Steuer in der Steuererklärung anzumelden, die innerhalb von drei Monaten nach Ablauf des Monats abgegeben wird, in dem die Steuerpflicht für die erworbenen Gegenstände entstanden ist.

Standpunkt des EuGH

In dem Urteil in der Rechtssache C-895/19 vertritt der EuGH einen für Steuerpflichtige günstigen Standpunkt. Nach Auffassung des EuGH verletzen die polnischen Rechtsvorschriften über den Vorsteuerabzug für innergemeinschaftliche Erwerbe den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und Verhältnismäßigkeit im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie: „die Art. 167 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach die Ausübung des Rechts auf Abzug der auf einen innergemeinschaftlichen Erwerb anfallenden Mehrwertsteuer im gleichen Steuerzeitraum wie dem, in dem die Mehrwertsteuer abzuführen ist, davon abhängig gemacht wird, dass die geschuldete Mehrwertsteuer in der Steuererklärung angemeldet wird, die innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Ablauf des Monats abzugeben ist, in dem die Steuerpflicht für den Erwerb der Waren entstanden ist”[1].

Der Gerichtshof bestritt eindeutig die Annahmen der polnischen Rechtsvorschriften, indem er hervorhob, dass das Recht auf Vorsteuerabzug vom Erhalt einer Rechnung oder Abgabe einer Steuererklärung oder Abrechnung der für den Erwerb geschuldeten Steuer nicht abhängig gemacht werden dürfe. Darüber hinaus betonte der EuGH in den Entscheidungsgründen, dass die vorübergehende Auferlegung den Erwerbern der Belastung einer Mehrwertsteuer für einen Umsatz, für welchen kein Mehrwertsteuerbetrag geschuldet werden soll, nur aufgrund der Nichteinhaltung einer formalen Pflicht, ohne dass alle relevanten Umstände (wie der gute Glaube des Steuerpflichtigen) berücksichtigt werden, über das hinausgehe, was erforderlich sei, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden.

Folgen für Steuerpflichtige

Durch die Annahme durch den EuGH, dass die geschuldete Mehrwertsteuer und Vorsteuer in derselben Periode abgerechnet werden sollen, lässt sich feststellen, dass bei den Steuerpflichtigen keine Steuerrückstände entstehen konnten und somit die von ihnen gezahlten Zinsen nicht fällig waren. Das EuGH-Urteil gilt also für Steuerpflichtige als Grundlage für Beantragung der Zinserstattung. Angesichts der zu erwartenden hohen Anzahl der Anträge auf Erstattung überzählter Mehrwertsteuer kann man vermuten, dass die Finanzbehörden die Steuer nicht automatisch erstatten, sondern überprüfen werden, ob u.a. das Kriterium der erforderlichen Sorgfalt erfüllt ist, die durch den EuGH in den Entscheidungsgründen erwähnt wurde. Man kann aber annehmen, dass die Steuerpflichtigen nach der Vorbereitung einer angemessenen Argumentation reale Chancen haben, die zu Unrecht gezahlten Zinsen erstattet zu bekommen. Die eventuelle Korrektur der Steuererklärung kann man jederzeit vor der Verjährung des Rechts auf Vorsteuerabzug einreichen. Wurde dagegen das Nichtvorliegen des Rechts auf Vorsteuerabzug mit einem endgültigen Steuerbescheid festgestellt, dann ist der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens in der abgeschlossenen Rechtssache innerhalb eines Monats nach der Bekanntmachung des Tenors des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Amtsblatt der Europäischen Union (d.h. spätestens bis 18. April 2021) zu stellen.

Das Urteil ermöglicht auch die Erfassung der Vorsteuer und geschuldeten Mehrwertsteuer in demselben Monat im Falle der künftigen Umsätze. Zwar betrifft das Urteil innergemeinschaftliche Erwerbe, aber es kann analog als Grundlage für Abrechnung der Importe von Dienstleistungen gelten.

 

Sollten Sie Fragen dazu haben oder möchten Sie dieses Thema näher besprechen, dann steht Ihnen unser Experte Przemysław POWIERZA jederzeit gerne zur Verfügung.

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[1] Urteil des EuGH vom 18. März 2021 in der Rechtssache C‑895/19